Welche Rolle spielt die landwirtschaftliche Beratung bei der Partizipation von Frauen?

Das Beratungsforum Schweiz BFS, die Dachorganisation der regionalen Beratungsorganisationen für die Landwirtschaft in der gesamten Schweiz, hat 2014 eine „Charta zur ganzheitlichen Beratung“ erlassen.

Auslöser für diese Charta waren Impulse der Kampagne „Frauen und Männer in der Landwirtschaft, Zusammenleben bewusst gestalten“. Die Trägerschaft dieser gemeinsamen Initiative wollte den Einbezug der ganzen Familie in wichtige betriebliche Entscheide fördern. Weil dabei die landwirtschaftliche Beratung eine wichtige Rolle spielt, wurde die BFS-Charta in der vorliegenden Form entwickelt und schliesslich an der Delegierten­versammlung des BFS vom 20. März 2014 angenommen.

Die zentrale Forderung dieser Charta lautet:

Die Beratung ist nur zielführend, wenn Beraterinnen und Berater dabei einen ganzheitlichen Ansatz anwenden, der neben den betrieblichen Aspekten auch die Anliegen und die Lebensqualität der Familie berücksichtigt.

Download der Volltextversion: BFS-Charta für eine ganzheitliche Beratung

Was hat die BFS-Charta mit dem Projekt PFO zu tun?

Die Wirkungsziele der BFS-Charta stimmen in vielen Bereichen mit den Projektzielen von PFO überein: Frauen zur Mitarbeit und Wahrnehmung ihrer Interessen zu motivieren, sei es im Familienbetrieb oder auch als Fachfrau einer Beratungsstelle. So wird das Thema Partizipation von Frauen in landwirtschaftlichen Organisationen von der BFS-Charta vor allem im Hinblick auf zwei Aspekten tangiert:

  • Beratungsinstitutionen für die Landwirtschaft sind ebenfalls „landwirtschaftliche Organisationen“, in denen Frauen eine gleichwertige Rolle spielen sollen.
  • Als Fachleute und Multiplikatorinnen und Multiplikatoren beeinflussen Beratungspersonen mit ihrer Facharbeit und mit ihrem Verhalten Rollenbilder ihrer Kundinnen und Kunden.

Beim informellen Nachfragen stellte sich heraus, dass die BFS-Charta nicht allen Beratungskräften bekannt ist und es entstand der Eindruck, dass die Charta seitens des BFS und der Beratungsorganisationen nicht sehr aktiv propagiert wird. Zudem lassen die Formulierungen der Charta einigen Interpretationsspielraum offen.

Diese Ausgangslage hat uns dazu bewogen, Auslegung und Wirkung der BFS-Charta anhand eines Pilotbeispiels zu überprüfen und beim Inforama Bern die betriebswirtschaftliche Beratungspraxis genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ziele der Erhebung zur BFS-Charta

In Zusammenarbeit mit dem Inforama Bern wurde versucht, die Wirkung der BFS-Charta anhand einer Erhebung konkreter Falldaten zu ergründen. Ziele dieser Erhebung waren:

  • Eine Übersicht über Kenntnis und Auslegung der BFS-Charta bei ausgewählten Vertreterinnen und Vertretern des BFS sowie bei Beratungskräften des Inforama zu erarbeiten.
  • Eckdaten zur Erfüllung der Charta-Grundätze anhand von konkreten Beratungsfällen für die beiden Erhebungsjahre 2014 und 2017 zu erfassen.
  • Die Wirkung der BFS-Charta durch den Vergleich der beiden Erhebungsjahre zu analysieren.
  • Einige Thesen zur Umsetzung der BFS-Charta anhand von Wirkungsindikatoren zu überprüfen.

Ausserdem kann die Erhebung zur BFS-Charta dem BFS dazu dienen, die Wirkungen der Charta  zu evaluieren und allfällige Anpassungen vorzunehmen oder unterstützende Massnahmen zu beschliessen.

Vorgehen und Methode

Vorbefragung: In der ersten Hälfte 2017 wurden mit ausgewählten Personen Interviews zur BFS-Charta geführt. Diese Vorbefragung hatte zum Ziel, die Bekanntheit der Charta festzustellen und die inhaltlichen Kenntnisse der Charta zu prüfen. Anhand eines strukturierten Leitfadens wurden 10 Beratungspersonen des Inforama Bern (dieselben, die auch an der Fallerhebung teilnahmen) und 3 Vorstände des BFS Anfang 2017 befragt, ohne dass ihnen vorgängig gesagt wurde, dass es um die BFS-Charta geht. Die Auswertung erfolgte aufgrund von quantitativen und qualitativen Kriterien.

Fallerhebung: Ein Set von Indikatoren und Faktoren zur Beratungspraxis wurde in einem Erhebungsraster zusammengefasst und mit dem Online-Tool “Findmind” so aufgearbeitet, dass die verlangten 10 Beratungsfälle – je 5 aus dem Jahr 2014 und 5 aus dem Jahr 2017 – pro Beratungsperson via Internet erfasst werden konnten. Die teilnehmenden 10 Beratungspersonen wurden bewusst so ausgewählt, dass sie je zur Hälfte aus Frauen und Männern bestanden und alle 5 Beratungsstandorte des Inforama Bern ausgewogen vertreten waren. Das Onlinetool  war ab März 2017 bis Februar 2018 für Eingaben geöffnet. Jede Beratungsperson erfasste jeweils ihre ersten 5 Beratungsfälle mit mehr als 4 Stunden Arbeitsaufwand, die in den Jahren 2014 respektive 2017 abgeschlossen wurden. Dabei sollten Fälle mit nichtbäuerlichen Kunden (Pachtfragen für eine Gemeinde, Verkehrswertschätzung für einen institutionellen Grundbesitzer usw.) ausgeschlossen werden.

Resultate

Ergebnisse der Vorbefragung zu Bekanntheit und Interpretation der BFS-Charta

Im Jahr 2017, 3 Jahre nach Veröffentlichung der Charta, kannten 5 von 13 Befragten diese Charta nicht, unter den befragten Beratungspersonen war es sogar die Hälfte.

Anmerkung: Die BFS-Charta ist öffentlich kaum auffindbar und wohl auch darum selbst in Beratungskreisen wenig bekannt!

Die 8 Befragten, welche angaben, die BFS-Charta zu kennen, haben alle auch wichtige Inhalte der Charta benennen können. Wer also weiss, dass es eine BFS-Charta gibt, kennt auch deren Inhalt.

Jene Befragten, die die Charta nicht kannten, hatten nach der Beantwortung der Frage Gelegenheit, den Text der Charta zu lesen und so deren Inhalt zur Kenntnis zu nehmen. Danach wurden die Interviews fortgesetzt. Für die nachfolgenden Ergebnisse kann also davon ausgegangen werden, dass die Charta allen 13 Befragten bekannt war.

Unter dem Schlüsselbegriff „Ganzheitlicher Ansatz“ konnten sich alle Interviewten etwas vorstellen. Die Vorstellungen deckten sich dabei weitgehend.

„Für mich könnte man das am besten als Lebensqualität beschreiben: eine Gesamtheit von betriebswirtschaftlichen Zahlen, Arbeitsplanung, Lebenszielen etc., welche für jede Person und den Verbund der Familie im Beratungsprozess individuell herausgearbeitet werden muss.“ (Zitat aus einem Interview)

Auch der Begriff „Strategische Beratung“ hatte für alle Befragten eine Bedeutung. Allerdings sind die genannten Kriterien oft nicht so leicht fassbar und werden unterschiedlich priorisiert.

„Die Frage, ob eine Beratung strategisch ist oder nicht, beschäftigt mich im Beratungsalltag nicht – alle Beratungsanfragen, die zu mir kommen, haben strategische Aspekte. Und ich frage eigentlich immer nach Hintergründen, auch bei vordergründig einfachen Sachfragen.“ (Zitat aus einem Interview)

Das Anliegen der Charta, die Beratungsinformationen für alle Beteiligten verständlich aufzuarbeiten, wird im Grundsatz von allen befragten Beratungspersonen angestrebt. Sie machten aber unterschiedliche Aussagen dazu, wie dieses Anliegen konkret umgesetzt werden soll.

„Informationen werden in schriftlicher Form (E-Mail, Bericht) an die betroffenen Parteien versandt. Anschliessend gibt es eine Besprechung, wo Fragen gestellt und Erklärungen gegeben werden können. Meist wird der Bericht nicht gelesen, deshalb ist die Besprechung umso wichtiger.“ (Zitat aus einem Interview)

Sieben der Befragten gaben an, Beratungen immer mit allen Betroffenen durchzuführen, und drei erklärten, in dieser Hinsicht eher fallweise vorzugehen – aber niemand hat diese Frage mit Nein beantwortet. Dieser Charta-Grundsatz wird in der Praxis offenbar sehr pragmatisch umgesetzt und an die jeweilige Situation angepasst.

„Ich bin in dieser Hinsicht eher hartnäckig und habe eigentlich meistens Erfolg damit, dass alle Betroffenen zum Beratungsgespräch kommen, auch „ernsthafte“ Freundinnen des jungen unverheirateten Betriebsleiters. Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit.“ (Zitat aus einem Interview)

Alle befragten Beratungspersonen geben an, schon bisher nach den Vorgaben der BFS-Charta gearbeitet zu haben. Aus den Kommentaren geht auch hervor, dass verschiedene methodische Ansätze, die beim Inforama gefördert werden, ganz auf der Linie der Charta liegen.

„Ich habe vorher in einer Treuhandstelle gearbeitet, dort war die Beratung vor allem zahlenlastig.
Die ganzheitliche Beratung ist spannender und herausfordernder.“ (Zitat aus einem Interview)

Die Befragten sind mehrheitlich der Meinung, dass der Erlass der BFS-Charta Sinn macht.

„Die Umsetzung kann auch provozieren: Dort, wo noch das traditionelle Rollenbild vorherrscht, muss die partnerschaftliche Entscheidfindung erst als bessere Lösung erkannt werden. Und der Einbezug aller Beteiligten kann Konflikte und Krisen in Beziehungen aufdecken und dazu führen, dass man darüber sprechen muss (z.B. Suchtprobleme werden häufig heruntergespielt und Betroffene stehen nicht dazu).“ (Zitat aus einem Interview)

Die Befragten haben einhellig keine grossen Erwartungen an die Wirkung der BFS-Charta, sehen aber trotzdem einen gewissen Nutzen darin, dass sie erlassen wurde. Sie wünschen sich, dass die Beachtung der BFS-Charta gefördert wird und ihre Grundsätze breiter diskutiert werden.

„Die Charta zu lesen sensibilisiert, sobald aber ihre Inhalte diskutiert werden, findet man die Details, welche noch verbessert werden können.“ (Zitat aus einem Interview)

Ergebnisse der Fallerhebung zur Wirkungsanalyse der BFS-Charta

Insgesamt wurden mit der Erhebung 100 Beratungsfälle des Inforama Bern erfasst – jeweils zur Hälfte aus dem Jahr 2014 und aus dem Jahr 2017. Von den beratenen Betrieben lagen 50 im Talgebiet (Tal- und Hügelzone) und 50 im Berggebiet (Bergzonen I-IV). Die 3 wichtigsten Beratungsthemen in dieser Erhebung waren: Hofübergabe (26 Fälle), Investitionen (22) und strategische Neuausrichtung (16). 45 der Beratungsfälle beanspruchten insgesamt einen Aufwand von 8-16 Stunden, 40 weniger als 8 Stunden, 15 mehr als 16 Stunden. Der Beratungserfolg wurde von den Beratungspersonen 35 Mal als sehr gut, 52 Mal als gut, 11 Mal als mittel und 2 Mal als schlecht beurteilt.

Die im Rahmen dieser Arbeit gemachte Fallauswertung kommt zum Schluss, dass die BFS-Charta eine gewisse Wirkung zur besseren Einhaltung der in der Charta festgehaltenen Grundsätze erzielt hat – oder dass diese Wirkung zumindest nicht verneint werden kann.

Aufgrund der geringen Signifikanz der meisten Auswertungen müssen die nachfolgenden Ergebnisse aber mit Vorsicht aufgenommen werden. Zudem ist bei allen verglichenen Indikatoren die BFS-Charta nur einer von vielen Einflussfaktoren – der Wirkungszusammenhang zwischen der Kenntnis der BFS-Charta und der besseren Einhaltung von den darin genannten Grundsätzen durch die Beratungspersonen ist deshalb nur bedingt gültig.

Die Ergebnistabelle zur Prüfung der Wirkungsthesen stützt dieses Ergebnis mehrheitlich:

Zusammenfassend können folgende Schlüsse aus der Wirkungsanalyse gezogen werden:

Hier findet sich der vollständige Bericht zur Wirkungsanalyse der BFS-Charta

Empfehlungen

Aufgrund der mit der Vorerhebung gewonnen Erkenntnisse über den Inhalt der Charta sowie aufgrund der Resultate der Fallerhebung beim Inforama werden folgende Empfehlungen gemacht:

Empfehlung an das Beratungsforum Schweiz BFS:

  • die BFS-Charta „zur ganzheitlichen Beratung“ auf der Website des BFS prominent aufschalten
  • die Charta, ihre Inhalte und ihre Umsetzung periodisch an den BFS-Delegiertenversammlungen thematisieren und damit schweizweit zur Diskussion bringen

Empfehlung an kantonale Beratungsinstitutionen:

  • die BFS-Charta auf den hauseigenen Websites an geeigneter Stelle aufschalten
  • die Charta-Grundsätze und ihre konkrete Umsetzung in unterschiedlichen Praxissituationen mit dem Beratungskollegium periodisch diskutieren
  • unter Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen und im Rahmen der Datenverfügbarkeit die eigene Beratungspraxis periodisch auswerten; dabei ein sinnvolles Indikatorenraster anwenden, das sich aus einer sparsamen Auswahl von Schlüsselfragen zusammensetzt (unter Einbezug der Erfahrungen dieser Arbeit)

Empfehlung an die Beratungskräfte:

  • die BFS-Charta in der eigenen Beratungspraxis als Leitfaden einsetzen
  • die Charta-Grundsätze kreativ und kritisch interpretieren, unter Berücksichtigung der jeweils konkreten Beratungssituation
  • sich mit den Beratungskolleginnen und -kollegen über Fragen zur Umsetzung der Charta, über Erfolge ebenso wie über Schwierigkeiten austauschen